Im Gefängnis: „Die schlimmsten Gitter sitzen innen“
Seelsorger Reinhard Koller berichtet beim Gemeindenachmittag von seiner Arbeit im Bückeburger Gefängnis
Von Frank Westermann
Rolfshagen/Bückeburg (rnk).
Wer hier wohnt, braucht kein Geld für Miete. Wer hier ein Zimmer hat, der zahlt das mit dem Leben ab. Und wer hier die Rechnung mit dem Leben abmacht, dem zahlt der Hausherr auch noch das Grab. Viel Platz für das Leben ist nicht mehr, alles spielt sich in einer zwei Mal vier Meter großen Zelle ab, 23 Stunden, denn Freigang schreibt der Gesetzgeber nur für eine Stunde verbindlich vor. Fünf Jahre ist Reinhard Koller Seelsorger im Bückeburger Gefängnis, der Vollzugsabteilung Bückeburg der Jugendanstalt Hameln, wie es nach Sparmaßnahmen heute verwaltungstechnisch offiziell heißt. Im geschlossenen Strafvollzug leben 60 Menschen zwischen 25 und 70 Jahren, die bis zu zwei Jahre Haft absitzen. Eine gute Stunde berichtet Koller beim Gemeindenachmittag in Kathrinhagen aus einer Welt, in der der aufgebaute Dönerstand beim Sommerfest der Höhepunkt des Jahres ist. Und das, lässt Koller durchblicken, ist auch schon ein paar Jahre her, heute ist für so etwas kein Geld mehr da. Im Sommer ist der Hofgang übrigens kein Vergnügen, dort staut sich die Hitze. Auf den grünen Rasenflächen könnten die Gefangenen spielen, aber sie dürfen es nicht: Der Bereich ist nicht durch Kameras überwacht – es gibt kein Mittel für diese Technik. Dass man dort angesichts der hohen Drahtzäune wohl kaum unbemerkt flüchten kann, lässt Koller zwischen den Zeilen durchklingen. Auch der Sportbereich ist eher unterentwickelt.
Für die angebotene Arbeit ist meistens der durchschnittliche Intelligenzquotient einer Gartenschnecke ausreichend: Es gilt, Schrauben abzuwiegen und einzupacken – sofern denn ein Auftrag vorliegt, die gibt es, erklärt Koller, nämlich keineswegs in Hülle und Fülle. Als eine Zuhörerin anmerkt, dass sie sich viel schwerere Arbeit für die Knackis wünschen würde, ist Koller gar nicht mal so abgeneigt: Dann würden sich die Jungs wenigstens ab und an mal wirklich verausgaben können. Gute Jobs gibt es in der Küche, das Essen selbst ist durchweg gut, wertet der Gottesmann. Am Herd steht einBerufskoch, zwei, drei Verurteilte dürfen helfen. Hier, oder auch in der Schlosserei liegen durchaus Lebenschancen, meint Koller. Im Gefängnis kann der Hauptschulabschluss nachgeholt und eine Lehre begonnen werden. Es sind aber nicht viele, die diese Gelegenheit beim Schopfe packen.
Koller, der sich freiwillig auf die Stelle in der JVA beworben hat und ihr etwa ein Viertel seiner Arbeitszeit widmet – er ist Seelsorger in Steinbergen -, hat bei vielen Gefangenen eine Sehnsucht nach Halt festgestellt, nach etwas, das ihnen Boden unter den Füßen gibt – und sei es nur das angebotene Gespräch mit einem Seelsorger, das der Schweigepflicht unterliegt. „Da gibt es dann schon mal Öffnungen, dann erzählen sie aus ihrem Leben, aus der Haft, von den Beamten oder ihrer gegenwärtigen Lage.“
Den Einwand der Zuhörer beim Gemeindenachmittag, dass auch Erwachsene irgendwann einmal die Verantwortung für ihr Leben übernehmen müssen und nicht immer alles auf die berühmt-berüchtigte schwere Kindheit schieben dürfen, kontert Koller mit Lebensbeschreibungen. Als Kind in eine schlagende Familie hineingeboren, selbst Opfer geworden, dann ins Heim oder die Pflegefamilie, eine Jugend ohne Zuwendung und Geborgenheit, ein schnelles und frühes Abdriften in den Drogen- und Alkoholmissbrauch – der Weg in die Kriminalität ist wie eine Rolltreppe abwärts, ein Leben ohne Notausgang, das auch hinter Gittern häufig nur eine Richtung kennt: nach unten. Denn schnell wenden sich Freundinnen und Frauen ab, wollen Verwandte und Eltern nichts mehr wissen vom Gestrauchelten, dem dann auch niemand mehr schreibt und den keiner mehr besucht: „Dann begreifen sie, dass sie wirklich allein sind, dass sie niemanden mehr haben“, erklärt Koller: „Es ist ein immer wiederkehrender Teufelskreis.“ Und nutzt dieses Bild: „Die schlimmsten Gitter sitzen innen.“
Gut abgehangene Anekdoten gibt es auch, etwa die von demälteren Berufsbetrüger, der Koller in seiner Anfangszeit besucht hat. Auf zwei Krücken hat sich der Mittsechziger ganz, ganz mühsam ins Zimmer geschleppt, ohne Gehhilfen, sagt er, gehe gar nichts. Einige Zeit später war sein Prozess, dort ist er ebenfalls mit den Doppelkrücken aufgetaucht. Und erhielt deshalb keine Handschellen angelegt. Kurze Zeit später wollte er im Gericht zur Toilette, durch ein nicht vergittertes Fenster ist er abgehauen. Die Krücken hat er zurückgelassen – sie waren reine Tarnung. Zwei Tage später wurde er wieder gefasst.
Passiert ist im Umgang nichts, sagt Koller, auch seinem Vorgänger wurde in elf Jahren kein Haar gekrümmt. Doch manchmal ist es schon etwas beklemmend, sagt Koller und berichtet vom Axtmörder aus Hohenrode, der am Vorabend seines Prozesses um ein Gespräch bat. Die Gefängnisleitung hatte durchaus Bedenken, schließlich konnte eine Geiselnahme nicht ausgeschlossen werden. Aber alles ging gut, außerdem hat Koller einen Alarmknopf: „Dann kommen alle Beamten angerannt.“ Und nach einem kurzen Augenblick kommt die trockene Pointe: „Hoffentlich funktioniert die Technik auch.“
Wie die Gesellschaft auf die Entlassenen reagiert, auf Menschen, die ihre Strafe abgebüßt haben und auf dem Papier wieder Bürger wie du und ich sind, dort allerdings sieht Koller noch viel Handlungsbedarf: „Das können wir nicht so richtig, da haben wir spürbare Defizite.“ Koller verweist auf Martin Luther, der 1518 in seinen Augsburger Disputationen festgestellt hatte, dass alle Sünder schön sind, weil sie geliebt werden.
Und nicht etwa geliebt werden, weil sie schön sind.
© Schaumburger Zeitung, 17.01.2009