Selbst in der Leichenhalle wird man noch beklaut
Von Frank Westermann
Kathrinhagen. Die Zettel mit dem Programm sind eine Viertelstunde vor Beginn schon alle vergriffen, danach werden die wenigen noch freien Plätze zugewiesen, anschließend Stühle geschleppt und im Gang aufgestellt: Die Frage, ob wir in diesen Zeiten noch ganz richtig ticken, die an diesem Sonntag als Motto des Konzerts im Kerzenschein aufgeworfen wird, stößt ganz offenkundig auf reges Interesse.
Antworten wollen Thomas Denker, Jürgen Leo, Christian Zündel und Stefanie Schulte-Rolfes geben und haben daher bei Franz Josef Degenhardt, Bert Brecht, Rainer Maria Rilke oder Reinhard Mey nachgeblättert. Unterbreitet wurde dabei von dem sich offenkundig untereinander herzlich verbundenen Quartett eine breite Palette von Möglichkeiten, wie das Leben zu bewältigen ist. Brecht empfahl genaue Planung: „Ja; mach nur einen Plan, sei nur ein großes Licht!“, um dann resignierend festzustellen: „Und mach dann noch ’nen zweiten Plan, geh’n tun sie beide nicht.“ Denn der Mensch ist nicht gut genug für dieses Leben, zu schwach, Hoffnung geben nur Schläge auf den Hut – dann wird er vielleicht gut.
Wer im Mai unter einem Baum liegt und träumt, der hat den Traum im Sommer schon wieder vergessen. Und wenn der erste Schnee liegt, dann steht der Mensch vor dem Spiegel und muss sich von seinem ersten grauen Haar sagen lassen, dass die Sonnenschein-Tage nun vorüber sind. Damit nicht genug: Wenn wir erst in der Leichenhalle liegen, dann wird ein Betrüger kommen und aus unserem Gebiss die Goldzähne herausbrechen – um dann selbst übers Ohr gehauen zu werden. Aber keine Sorge: Bis dahin tanzen alle die Tarantella – den aus Süditalien stammenden Volkstanz, der auch eine Art Therapie darstellt: Die Musiker kommen ins Haus des von einer Spinne gebissenen Patienten und beginnen zu spielen; der Gebissene tanzt bis zur völligen Erschöpfung, um das Gift aus seinem Körper zu treiben.
Bert Brecht erhält viel Raum in einem Programm, das nachdenklich und anspruchsvoll daherkommt und weit entfernt von der oberflächlichen Befindlichkeits-Lyrik angesiedelt ist. Schließlich nimmt die Frage, was Zeit überhaupt ist, im Werk des Augsburger Jahrhundertdichters eine zentrale Stelle ein: Wie in der Erinnerung an die Marie A., einem der schönsten Gedichte in deutscher Sprache: Unter einem jungen Pflaumenbaum liegend und die stille bleiche Liebe im Arm haltend wie einen holden Traum, während am Himmel, sehr weiß und ungeheuer oben, eine Wolke dahinschwebt: „Und als ich aufsah, war sie nimmer da“, röhrt Christian Zündel in den gefüllten Kirchenraum. Alles ist vergänglich.
Seit die Sparkasse Schaumburg sich aus der Förderung der Kultur in der Kirchengemeinde Kathrinhagen/Rolfshagen vollständig zurückgezogen hat, ist es spürbar schwierig geworden. Denn ein Helmut Debus, der als plattdeutscher Bob Dylan gilt, spielt nicht nur für Applaus und warme Worte, sondern erhält auch eine Gage, die dann durch die Spenden zur Hälfte gedeckt wird – wenn es gut geht. So entsteht ein Minus in der Kasse, das durch Konzerte wie am Sonntag gedeckt werden muss. Dafür springen Künstler wie der Borsteler Jürgen Leo ein, der zwei Freunde anruft, mit denen er seit Jahrzehnten auf der Bühne steht, um mit der Küsterin der Kirchengemeinde dreimal zu proben und ein Programm auf die Beine zu stellen, das sich nicht nur hören und sehen lassen kann, sondern das Minus etwas schmelzen lässt.
Und, seien wir ehrlich: Auch wenn es mit der großen Karriere auf den großen Sangesbühnen dieser Welt für Stefanie Schulte-Rolfes wohl nicht reichen wird, so ist es ebenso anrührend wie mutig und ehrlich, wenn sie mit leicht brüchiger Stimme von dem singt, was – nicht nur ihr – wichtig ist: von der Zeit, die man mit Freunden verplaudert; von der Geduld, wenn’s mehr als eine Meinung gab; davon, dass man meint, dass bei guten Freunden in ihren Fenstern das Licht wärmer scheint.
Dann ticken wir auch wieder richtig.