„Der Mensch wird gebremst und verlangsamt“
Kathrinhagen. Natürlich kommen die allermeisten zu Fuß, manche haben noch einen Hund dabei, eine Frau war letztes Jahr sogar mit ihrem Pferd auf dem Pilgerweg unterwegs. Sebastian kam dagegen mit dem Fahrrad. Er war in Regensburg aufgebrochen und ruhte sich im Schatten der malerischen Kirche Kathrinhagens auf einer Bank aus, die er notfalls auch als nächtliche Ruhestätte ausgewählt hätte. Aber weil hier ja eine Pilgerherberge ist, konnte er sein Haupt deutlich sanfter betten.
In diesem Jahr sind es weniger Pilger als noch vor zwölf Monaten, die in Kathrinhagen Halt machen. Das mag am Wetter liegen, das nicht wirklich einlädt, sich auf den Weg zu machen, vielleicht aber auch an den vielen Umbauten, die im Kirchenhaus in den letzten Monaten anfielen. Seit letzter Woche ist eine neue Küche eingebaut, auch die Dusche wurde gründlich saniert. Doch Naomi Wolf-Takada zieht es erst einmal zum Klavier, als sie in Kathrinhagen eintrifft. Mit ihrem Ehemann Christian ist sie in Köln aufgebrochen, nachdem sie vier- oder fünfmal in Bahn und Bus umgestiegen sind, haben sie den Pilgerweg in Loccum begonnen, der sie mit fünf Stunden Regen begrüßte. Beide haben erst im letzten Jahr das Pilgern für sich entdeckt, es war wohl der Respekt vor den langen Fußmärschen und dem mitzuschleppenden Gepäck, der erst überwunden werden musste, erzählt Christian Wolf. Bei der Premiere sind sie fast 500 Kilometer gepilgert, über Görlitz, Leipzig, Erfurt, Eisenach, im Herbst waren sie auf dem Elisabethpfad unterwegs, von Eisenach nach Marburg ging es, auch zu Ostern wurden in diesem Jahr die Pilgerstiefel geschnürt. Und warum nun Loccum-Volkenroda? „Weil der Internet-Auftritt so überzeugend war“, erzählt der Rheinländer. Außerdem, so fügt Stefanie Schulte-Rolfes als regionale Pilgerbeauftragte an, seien die Wegeführungen deutlich besser geworden – weil der Weg per GPS ausgemessen wurde. Auch ein paar Zahlen fielen bei der Entscheidung ins Gewicht: Waren es vor fünf Jahren noch 93 000 Pilger, die auf dem Jakobsweg unterwegs waren, so stieg die Zahl auf 270 000 in 2010 – es ist mittlerweile schlicht überlaufen dort.
Das unruhige Herz ist meistens die Ursache, die Wurzel der Pilgerschaft, aber Wolf und seine Gattin haben noch einen weiteren und durchaus tiefergehenden Grund, warum sie unterwegs sind: „Weil das Tempo heruntergedimmt wird, der Mensch wird gebremst und verlangsamt“, erklärt Wolf. Und er gelange zu einem Tempo, das sich deutlich von dem unterscheide, was einem von der „normalen“ Welt aufgedrückt werde: „Beim Pilgern erreicht man das Tempo, das am meisten und stärksten dem Menschen entspricht.“ Unweigerlich komme es zu einer „Verformung“, bis man merke, „jetzt stimmt es.“ Und die Kluft dazwischen, zwischen dem Tempo von außen und dem von innen, „die ergibt ein knisterndes Gefühl“. Diese Gleichheit Schritt für Schritt, dieses Tempo, in das man reinkomme, die ergäbe das Gefühl: „So ist es gedacht.“ Und? „In dieser Einfachheit liegt das Glück.“Â An diesem Abend wird es in Kathrinhagen verdoppelt: Wolf hat in dieser Kirche vor zwei Jahren mal ein Konzert gegeben, auch in Fischbeck, wo er am nächsten Tag ankommen wird, hat er zweimal gespielt. So ist das beim Pilgern: Man kann unterwegs auch mal unerwartet wieder ankommen.
Traum und Trauma, Wunsch und Wirklichkeit, Liebe, Glaube Hoffnung – alles lässt sich in einen kleinen Pilgerrucksack stecken. Eine elementare Erfahrung, die es sogar auf die Lehrpläne geschafft hat: In den nächsten Tagen erwartet Katrinhagens regionale Pilgerbeauftragte: 40 Menschen, die im Rahmen ihrer Ausbildung zum Sozialpädagogen auf dem Pilgerpfad unterwegs sind. Es ist, so erklärt Stefanie Schulte-Rolfes, bereits das dritte Jahr in Folge, dass die Azubis in Kathrinhagen einen Zwischenstopp einlegen.
Susann Röwer, Koordinatorin für den Pilgerweg Loccum-Volkenroda bei der Landeskirche, kann die Zahlen der Pilger nur schätzen: „Wir versuchen, die ungefähren Pilgerzahlen durch die Herausgabe des Pilgerpasses zu ermitteln. Der Pilgerpass ist in der Saison 2010 in über 3000 Exemplaren ausgegeben worden. Da schätzungsweise mindestens die gleiche Anzahl von Pilgern ohne Pilgerpass unterwegs ist, sind es über 6000 Menschen, die im vergangenen Jahr ein- oder mehrtägig auf dem Weg gepilgert sind.“
Generell gilt, dass von den etwas über 100 Kirchengemeinden und Klöstern sich 73 bei den verlässlichen gastfreundlichen Angeboten für Pilger beteiligen. Aber, so sagt Susann Röwer, die Zahl der Gruppen, die sich auf den Weg machen, steigt.
Aber egal, wie lange sie in Kathrinhagen und anderswo bleiben, sie alle brechen wieder auf. Manchmal hinterlassen sie eine Nachricht, so wie Sebastian aus Regensburg, der herzblutbeglaubigte Poesie ins Gästebuch hineinschrieb: „Vorausgesetzt, dass mir auf meinen letzten Kilometern nicht noch die Engel anfangen zu singen oder mir die Jungfrau Maria erscheint – sollte mir also so etwas nicht passieren, dann bleibt meine Ankunft in Kathrinhagen der wunderbarste, glücklichste Moment meines Pilgerweges.“
Quelle: Schaumburger Zeitung vom 25.08.11